Medizinethnologie

Stigma, Moral und Zwangsmaßnahmen – Gesundheitsversorgung für Sexarbeiterinnen?

Ursula Probst

Sexarbeiter*innen und Unterstützer*innen demonstrieren im Oktober 2015 in Berlin gegen das geplante Prostituiertenschutzgesetz | 01.10. 2015 | Credits: h3xtacy https://www.flickr.com/photos/reverend_anath/21677268848/

Sexarbeiter*innen und Unterstützer*innen demonstrieren im Oktober 2015 in Berlin gegen das geplante Prostituiertenschutzgesetz | 01.10. 2015 | Credits: h3xtacy https://www.flickr.com/photos/reverend_anath/21677268848/

Seit mehr als einem Jahr verhandeln die Koalitionspartner CDU/CSU und SPD über ein neues Gesetz zur Regulierung von Sexarbeit in Deutschland. Begonnen hat die Debatte um die Situation der Sexarbeit bereits vor einigen Jahren, nachdem von mehreren Seiten Kritik an der Umsetzung und Wirkung des Prostitutionsgesetzes von 2002 (ProstG 2002) laut wurde. Konservative Politiker*innen sowie manche Feminist*innen und Prostitutionsgegner*innen bezeichnen das ProstG 2002 als fehlgeschlagene Maßnahme, die Deutschland zu einem Paradies für Menschenhändler bzw. zum „Bordell Europas“ (Welt 2015) gemacht habe. Das neue Gesetz („Prostituiertenschutzgesetz“) soll nun eine bessere Handhabe gegen Menschenhandel und Ausbeutung ermöglichen und den (Selbst-)Schutz von Sexarbeiter*innen fördern.

Was den Befürworter*innen des Gesetzes damit als gute Idee erscheint, wird allerdings von Sexarbeitsaktivist*innen, Sexarbeitsverbänden sowie diversen Fachberatungsstellen und Organisationen wie z.B. der Deutschen AIDS-Hilfe kritisiert (BesD 2015; Hydra 2015; bufas 2015; Deutscher Frauenrat 2015; Deutsche AIDS-Hilfe 2015; KOK 2015): Die im Prostitutionsschutzgesetz vorgesehenen Maßnahmen wie unter anderem eine Registrierungspflicht für Sexarbeiter*innen, Kondompflicht, Vorschriften zur Konzessionierung von Bordellbetrieben und eine verpflichtende Gesundheitsberatung würden nicht zu einer Verbesserung der Situation von Sexarbeiter*innen beitragen, sondern stellten vielmehr stigmatisierende Mittel dar, die alleine der staatlichen Kontrolle von Sexarbeiter*innen dienten.

Im folgenden Beitrag möchte ich mich dieser Kritik an dem Gesetzesentwurf anschließen und am Beispiel von Gesundheitsberatung und -versorgung von Sexarbeiter*innen analysieren, warum es sich hierbei um eine Intervention des Staates handelt, die auf moralisierenden Stereotypen der Sexarbeit als Problem für die öffentliche Gesundheit aufbaut und damit einerseits zur Stigmatisierung von Sexarbeit beiträgt sowie andererseits strukturelle Problemlagen in der Gesundheitsversorgung von Sexarbeiterinnen wie z.B. die Frage nach Zugängen zum Gesundheitssystem zugunsten einer vermeintlich „einfachen Lösung“ verschleiert. Hintergrund dieser Analyse ist eine ethnographische Forschung zu Beratungsangeboten für Sexarbeiterinnen in Berlin, die ich im Jahr 2013 im Rahmen meiner Masterarbeit durchführte. Ziel dieser Forschung war es, Perspektiven und Meinungen von Sexarbeiterinnen zu Beratungsangeboten zu erfassen und darauf aufbauend Probleme im Bereich der Sexarbeitsberatung zu analysieren. Während sich die Fragestellung der Forschung zwar nicht auf gesundheitliche Themen beschränkte, sondern auch Themen wie das allgemeine Beratungsangebot, Fragen zur Ausübung der Arbeit oder steuerliche und rechtliche Fragen inkludierte, zeigte sich, dass Sexarbeiterinnen gerade im Bereich der Gesundheitsberatung viele Kritikpunkte äußerten und den öffentlichen Umgang mit diesem Thema als äußerst problematisch wahrnahmen. Insbesondere betonten sie, dass die externen Vorstellungen darüber, welche Bedarfslagen Sexarbeiterinnen im Bereich Gesundheit haben, mitunter stark von den tatsächlichen Bedürfnissen und Problemen abweichen, zum Beispiel in der Frage, wie Aufklärung über Kondome gestaltet oder welche Punkte im Rahmen der Gesundheitsaufklärung abgedeckt werden sollten. Auch zwei Jahre nach dieser Forschung besteht diese Problematik noch, wie die geplanten Maßnahmen zu einer verpflichtenden Gesundheitsberatung verdeutlichen.

 

Gesetz und Realität – Stereotype Bilder und heterogene Arbeitswelten

Im Juli 2015 wurde nach längeren Diskussionen schließlich ein Referentenentwurf zum neuen Prostituiertenschutzgesetz veröffentlicht (BFSFJ 2015). Dieser Entwurf sah unter anderem vor, dass sich Sexarbeiter*innen regelmäßigen, verpflichtenden Gesundheitsberatungen unterziehen sollten, um ihrer Arbeit nachgehen zu dürfen. Ebenso sollten sie sich in regelmäßigen Abständen bei den Behörden registrieren, wobei die Behörden beim Eindruck „mangelnder Einsichtsfähigkeit“ die Anmeldung auch verweigern könnten (ebd.; Schmollack 2015). Weniger aufgrund der Kritik der oben erwähnten Verbände an der im Rahmen dieser Maßnahmen ausgedrückten Entmündigung und Stigmatisierung, und mehr in Antwort auf die Beschwerden der Bundesländerverwaltungen über den damit einhergehenden großen Verwaltungsaufwand (Menkens 2015), hat das Familienministerium unter der Leitung von Manuela Schwesig vor einigen Tagen eine „entschärfte“ Version dieses Gesetzes präsentiert: Unter anderem wurde die verpflichtende Gesundheitsberatung auf eine einmalige Beratung vor Arbeitsantritt reduziert und die Registrierung soll in größeren Abständen stattfinden können (Dernbach 2015). Laut Medienberichten sollen diese Kürzungen des Gesetzes allerdings ohne Absprache mit dem Koalitionspartner CDU/CSU erfolgt sein (Menkens 2015), der bereits Kritik an der neuen Fassung laut werden lässt (CDU/CSU 2015).

Ist dementsprechend momentan noch fraglich, in welcher Form genau dieses Gesetz verabschiedet werden soll, so blieb der Grundgedanke dahinter auch in der neuen Fassung erhalten. Sexarbeiter*innen müssen weiterhin in gesundheitlichen Belangen beraten werden – gemäß dem im Juli veröffentlichten Referentenentwurf besonders im Bereich der Krankheits- und Schwangerschaftsverhütung sowie des Drogenkonsums. Bestehen blieb ferner die Frage nach der Einsichtsfähigkeit von Sexarbeiter*innen (taz 2015), was insgesamt von einem Verständnis von Sexarbeit zeugt, das Sexarbeiter*innen als mitunter naive und hilfsbedürftige Menschen in Notlagen begreift, die durch in der Registrierungspflicht ausgedrückte staatliche Kontrolle „geschützt“ werden müssen. Entspricht dieses Bild zwar den in Medien und der Gesellschaft verbreiteten Stereotypen, spiegelt es allerdings kaum die heterogenen Lebens- und Arbeitsrealitäten in der Sexarbeit wider.

Sexarbeit ist ein äußerst heterogener Bereich, in dem Menschen verschiedener Geschlechter unterschiedlichste Dienstleistungen anbieten. Weniger abstrakt formuliert bedeutet das, dass für manche Menschen in der Sexarbeit Verhütungsfragen wenig Relevanz besitzen, weil es z.B. zu keinem körperlichen Kontakt (oder zumindest keinem Geschlechtsverkehr) kommt, wie unter anderem bei Webcam- oder Telefonsexangeboten oder in manchen Varianten des professionellen SM-Bereiches. Ebenso kommen die in der Sexarbeit tätigen Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Umfeldern. In Deutschland finden sich in der Sexarbeit Menschen mit verschiedenen Ausbildungsgraden und -wegen, mit diversen Staatsbürgerschaften, Migrationserfahrungen und Sprachkenntnissen sowie in unterschiedlichen familiären Situationen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Das bedeutet, dass sich in der Sexarbeit auch Menschen finden, für die eine solche Gesundheitsberatung schlichtweg nicht notwendig ist, weil sie bereits über ausreichend Wissen um ihre Gesundheitsvorsorge verfügen bzw. unter Umständen auch in diesem Bereich ausgebildet sind.

Gleichzeitig bedeutet ein Hinweis auf die Heterogenität in der Sexarbeit auch, dass es in diesem Bereich sehr wohl Menschen gibt, die (noch) nicht über ausreichend Wissen oder Ressourcen verfügen, um ihre Gesundheit zu schützen. Im Mittelpunkt der Debatten stehen dabei vor allem diejenigen Sexarbeiter*innen, die von Ausbeutung oder problematischen Arbeitsverhältnissen betroffen sind. Doch auch im Hinblick auf diese Gruppe lässt sich die vorgeschlagene Registrierungspflicht und verpflichtende Gesundheitsberatung in Frage stellen. Dass den persönlichen Kapazitäten entsprechend zu viel gearbeitet wird, Verhütungsmittel nicht eingesetzt werden oder nicht auf die Ernährung geachtet wird, muss nicht unbedingt an mangelndem Wissen liegen, sondern kann in der ökonomischen Situation verankert sein, wenn man sich z.B. entsprechende Nahrungsmittel nicht leisten kann oder Kund*innen nicht ablehnt, weil man das Geld braucht, oder weil man dringend Geld nötig hat und bei Verkehr ohne Kondom mehr verdienen kann.

Wenn hier in manchen Fällen weiterführende Beratung sicherlich einen Beitrag leisten kann, handelt es sich doch um Probleme, die wesentlich weitreichender sind und umfassendere Lösungsansätze erfordern, z.B. Möglichkeiten der sozialen Absicherung oder weiter gedacht die Bekämpfung globaler Ungleichverhältnisse. Registrierung und Beratung greifen allerdings nicht die strukturellen Ursachen an, die Sexarbeiterinnen daran hindern können, ihre Arbeit sicher und selbstbestimmt auszuüben, sondern verstärken im schlimmsten Fall durch den Verlust der Anonymität die Vulnerabilität von Sexarbeiterinnen. Schließlich finden sich in dem heterogenen Feld der Sexarbeit sicherlich auch Menschen, für die Beratung wichtig und sinnvoll sein kann, wie z.B. Menschen mit Aufklärungsbedarf in Sachen sexuell übertragbare Krankheiten – und die die Befürworter*innen des Gesetzes vermutlich im Sinn hatten. Allerdings handelt es sich dabei nur um eine Gruppe von Sexarbeiter*innen, bei weitem aber nicht alle – ein wichtiger Punkt, dem der Gesetzesentwurf schlichtweg nicht gerecht wird.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch eine Anmerkung zur geschlechtergerechten Schreibweise in diesem Text und zur Forschungsgruppe machen: An der diesem Beitrag zugrundeliegenden Forschung nahmen ausschließlich Cis-Frauen[1] teil, weswegen ich in Folge nur von Sexarbeiterinnen sprechen werde. Ebenso handelte es sich bei meinen elf Forschungsteilnehmerinnen um Frauen, die einerseits großteils verschiedene Migrationserfahrungen (z.B. aus Bulgarien, Spanien und Österreich) hatten, andererseits alle fließend Deutsch und/oder Englisch sprachen und (mit einer Ausnahme) im Besitz einer EU-Staatsbürgerschaft waren, wodurch sich z.B. keine aufenthaltsrechtlichen Probleme stellten. In Hinblick auf die Dauer ihrer Tätigkeit als auch die Bereiche ihrer Arbeit hatten meine Forschungsteilnehmerinnen ganz unterschiedliche Erfahrungen: Während z.B. Tina*[2] erst ungefähr ein Jahr vor unserem Gespräch mit der Sexarbeit angefangen hatte und zur Zeit der Erhebung in einem Berliner Wohnungsbordell arbeitete, konnten andere Frauen auf langjährige Arbeitserfahrung in verschiedenen Bereichen, vom Straßenstrich bis zum Escortservice, zurückblicken. Gemein war ihnen allerdings, dass sie (mit einer Ausnahme) alle Ausbildungen über den Schulabschluss hinaus absolviert hatten oder gerade dabei waren, solche Ausbildungen zu absolvieren. Insgesamt waren meine Forschungsteilnehmerinnen eben nicht „nur“ Sexarbeiterinnen, sondern auch Studentinnen, Angestellte, Mütter, Künstlerinnen und vieles mehr.

 

Gesundheitsaufklärung und Arbeitsanforderungen im Widerspruch

„Also da kommt irgendeine Frau, erzählt dir was, wo du denkst, hast du das eigentlich schon mal praktiziert, was du da erzählst?“ – so beurteilte Bettina* die Aufklärungskampagnen des Gesundheitsamtes, die in unregelmäßigen Abständen an ihrem Arbeitsplatz, einem Berliner Wohnungsbordell, durchgeführt werden. Gesundheitsaufklärung für Sexarbeiterinnen wird in Berlin einerseits von öffentlichen Stellen, den Gesundheitsämtern, durchgeführt, andererseits gibt es in Berlin auch einige NGOs, die Beratung für Sexarbeiterinnen anbieten. Letztere unterscheiden sich außerdem durch ihre Einstellung zu Sexarbeit – während manche Vereine wie z.B. Hydra e.V. für die Anerkennung von Sexarbeit und die Selbstbestimmungsrechte von Sexarbeiterinnen eintreten, lehnen andere Vereine wie z.B. Solwodi (Solidarity with Women in Distress) Sexarbeit ab und treten für das Verbot von Sexarbeit ein. Diese unterschiedlichen Sichtweisen prägen auch die Beratungsarbeit und so waren es vor allem die Beratungsangebote derjenigen Vereine, die sich der Anerkennung von Sexarbeit anschlossen, die meine Forschungsteilnehmerinnen als grundsätzlich nützlich ansahen. Unter anderem deswegen, weil diese Vereine (zumindest teilweise) mit Sexarbeiterinnen selbst in Kontakt standen bzw. Sexarbeiterinnen an der Arbeit teilnahmen und somit gewisse Kenntnis über Sexarbeit und damit zusammenhängende Bedarfslagen gegeben war – ein Umstand, der bei der aufsuchenden Arbeit des Gesundheitsamtes vermisst wurde, wie das oben genannte Zitat verdeutlicht.

Dennoch sahen sich meine Forschungsteilnehmerinnen insgesamt eher nicht als Zielgruppe für Beratung, da sie aufgrund ihrer Arbeitserfahrung und anderweitiger Ressourcen (Sprachkenntnisse, Bildung usw.) bereits über das Grundwissen verfügten, das ihrer Ansicht nach Inhalt der Beratung war, wie Marlene* es ausdrückte: „Also eigentlich für mich wär’ da kein Bedarf, obwohl ich das wichtig finden würde […] für Neueinsteigerinnen.“ Damit soll nicht gesagt sein, dass sich diese Frauen grundsätzlich nicht für Beratung interessierten – nur wurden für sie interessante Themen nicht abgedeckt, wie für Marlene*, die sich z.B. für psychologische Aspekte der Kommunikation mit Kunden interessierte, oder Tina*, die über die Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten Bescheid wusste, allerdings gerne etwas mehr über die gesellschaftlichen Dimensionen der Debatten dazu gehört hätte.

Ließe sich zwar Marlenes* Erwähnung der Neueinsteigerinnen als Bestätigung des aktuellen Entwurfes des Familienministeriums verstehen, so sollte in Bezug auf Beratung noch ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt meiner Forschungsteilnehmerinnen bedacht werden und zwar derjenige, dass die inhaltliche Gestaltung der Beratungsangebote, besonders von öffentlichen Stellen bzw. Initiativen, die nicht direkt mit dem Umfeld der Sexarbeit vertraut waren, nicht an die Anforderungen der Arbeit angepasst war. Alleine zum Thema Kondome gab es aus Sicht meiner Forschungsteilnehmerinnen im Kontext der Sexarbeit viel mehr zu sagen als eine allgemeine Erklärung der Anwendung, wie z.B. Anna* ansprach:

„Ja welche Arten von Kondomen sind denn jetzt nun besser, weil es gibt ja viele Arten von Kondomen, wo man dann sagen kann, du, pass auf, das ist eher ein bisschen dünner, das kannst du nicht für große [Penisse, Anm. d. Verf.] nehmen, der ist ein bisschen stabiler, den kannst du dafür nehmen.”

Ein weiterer Punkt, den ich mit Sexarbeiterinnen in einer Fokusgruppendiskussion besprechen konnte, war die Gestaltung von Informationsmaterial. Wie Bettina* es beschrieb, „gab’s auch so ein tolles Merkblatt, aber wenn man das danach machen würde, dann solltest du erstmal ne halbe Stunde vorher den Sack angucken, das Glied und den Anusbereich und dann kannst du anfangen“, anders formuliert – das Material war zu klinisch-abstrakt gehalten, um im Kontext der Arbeit umgesetzt zu werden. Ebenso beschränken sich Gesundheitsfragen in der Sexarbeit nicht auf die Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten. Jelena* nannte in diesem Zusammenhang unter anderem die Frage, wie sich Blasenentzündungen am besten vermeiden lassen. Oder wie damit umgegangen werden kann, dass die Arbeit häufiges Waschen, vor allem des Genitalbereichs beinhaltet, wodurch die Vaginalflora geschädigt werden kann, was wiederum ein höheres Infektionsrisiko bedeutet. Mitarbeiterinnen von Fachberatungsstellen nannten außerdem orthopädische Probleme, die sich durch das häufige und lange Tragen von High-Heels oder dem Arbeiten auf schlechten Matratzen bzw. Betten ergeben können – Probleme, die in der üblichen Gestaltung und Finanzierung von Beratung nicht abgedeckt werden. Die Liste an potentiellen gesundheitlichen Problemen ließe sich noch fortsetzen. Allen diesen Punkten gemein ist jedenfalls, dass sie nicht durch Kondomaufklärung oder Informationen zur Empfängnisverhütung behoben werden können. Einerseits ist das Wissen um diese unterschiedlichen Problemstellungen gerade bei Sexarbeiterinnen selbst vorhanden, andererseits sind sich aber auch zum Teil Fachberatungsstellen dieser Problematik bewusst. Es stellt sich also auch aus dieser Perspektive die Frage, wessen Bedürfnisse der Gesetzentwurf eigentlich abdecken möchte und warum dieses Wissen nicht in die Gesundheitsvorsorge Eingang findet. Oder, wie Anna* es formulierte: “[Man muss sich] auch mal die Sorgen und Nöte der Damen anhören”.

 

Stigma und Moral – die Sexarbeiterin als „Gefahr für die öffentliche Gesundheit“

Dass die Stimmen von Sexarbeiterinnen selten wahrgenommen werden, ist kein Problem, das sich rein auf die Beratungsarbeit beschränkt. So zeigt sich z.B. auch in vielen Medienberichten, dass zwar viel über Sexarbeiterinnen gesprochen werden kann, aber wenig mit ihnen über ihre Erfahrungen und Einschätzungen gesprochen wird. Kurz gesagt: Es handelt sich dabei um ein strukturelles Problem, das durch die Stigmatisierung und Moralisierung von Sexarbeit bestimmt wird. Frei nach Goffman (1963) formuliert bedeutet Stigmatisierung, dass Menschen aufgrund eines bestimmten Merkmales, wie z.B. ihrer Tätigkeit als Sexarbeiterin, bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden (ebd.: 4). Oder anders gesagt, dass die oben dargestellte Heterogenität in der Sexarbeit auf bestimmte Stereotype reduziert wird, anhand derer Sexarbeiterinnen pauschal beurteilt bzw. diskriminiert werden. Dass Sexarbeit stigmatisiert wird, hängt dabei mit der moralischen Komponente dieses Themas zusammen. Sex bzw. sexuelle Dienstleistungen gegen Geld anzubieten, widerspricht denjenigen Moralvorstellungen, die Sexualität als etwas ausschließlich Privates und Intimes verstehen, das nicht gegen Geld aufgewogen werden kann, bzw. die das Ausleben von Sexualität an Partnerschaften binden. Zelizer (2005) spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten „hostile worlds“ (ebd.: 20ff), den feindlichen Welten der Sexualität und Ökonomie, deren Verknüpfung z.B. in der Sexarbeit die Authentizität und Legitimation von sexuellen Akten in Frage stellt. Das zeigt sich in aktuellen Debatten unter anderem darin, dass immer wieder in Frage gestellt wird, ob Sexarbeit denn nun wirklich etwas ist, das man freiwillig machen kann, oder der Frage danach, welche Probleme einer Entscheidung für die Sexarbeit zugrunde liegen.

Während Sexarbeit also allgemein gängigen bzw. dominanten moralischen Wertvorstellungen widerspricht, spielt dabei auch eine spezifische geschlechtliche Dimension eine Rolle, die Sexarbeit immer wieder zum „Frauenthema“ werden lässt. Denn es sind gerade die Vorstellungen über die Sexualität der Frau(en), die sich an der Existenz der Sexarbeit stoßen. Bis heute werden (heterosexuelle) Frauen, die ihre Sexualität vielseitig – d.h. unter anderem außerhalb von Partnerschaften und/oder mit häufig wechselnden Geschlechtspartner*innen – ausleben, mitunter als „Huren“ stigmatisiert und ihr Lebenswandel in Frage gestellt (Macioti 2014). Hinter diesen Vorurteilen stehen heteronormative Vorstellungen über einen grundsätzlichen Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Sexualität, über den männlichen „Sexualtrieb“ und ähnliches. Dass Frauen ihre Sexualität selbst bestimmen, stellt dabei – auch unabhängig von Sexarbeit – dieses Konstrukt in Frage, und „solche“ Frauen werden dementsprechend zur Gefahr für die Ordnung (Löw & Ruhne 2011: 105f).

Und so galt auch „die Prostituierte“ lange als Gefahr für Moral und Ordnung. Dieses Stereotyp entstand bereits vor mehreren Jahrhunderten, als sich zu Beginn der Reformation ein Wandel der Moralvorstellungen und eine Rückkehr zum Ideal der ehelichen Gemeinschaft einstellte (Kontos 2009: 251). Dass „die Prostituierte“ später nicht nur aus ideologisch-moralischer, sondern auch aus medizinischer Perspektive zu einer „Gefahr“ für die Öffentlichkeit wurde, hängt mit der Entwicklung der Biomedizin und der Entdeckung der Übertragungswege von Geschlechtskrankheiten zusammen. Ein Besuch bei einer Prostituierten war damit nicht mehr nur moralisch verwerflich, sondern konnte vermeintlich auch ernsthafte gesundheitliche Konsequenzen haben (Donnan & Magowan 2010: 74). Dieses Vorurteil wurde schließlich als Legitimation für die Kontrolle von Prostituierten herangezogen – zum „Schutz“ der allgemeinen Bevölkerung (Kreutzer 1989: 59ff).

Das führte unter anderem dazu, dass bereits im Deutschen Kaiserreich verpflichtende Untersuchungen für Prostituierte eingeführt wurden – die nach den Weltkriegen durch das 1953 eingeführte Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten in der BRD bis 2001 weitergeführt wurden (ebd.). Im Rahmen dieses Gesetzes mussten sich Prostituierte regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen unterziehen, um sich eine Bescheinigung über ihre Infektionsfreiheit – umgangssprachlich als Bockschein bezeichnet – ausstellen zu lassen. Infektionen oder versäumte Untersuchungen bedeuteten einen Verlust der Arbeitserlaubnis und Sexarbeiter*innen ohne Bockschein wurden unter Strafe gestellt (ebd.).

Diese Situation änderte sich, als das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten im Jahr 2001 durch das Infektionsschutzgesetz ersetzt wurde. Diese Gesetzesänderung stand dabei aber nicht so sehr mit der Kritik von Sexarbeiter*innen an verpflichtenden Untersuchungen, als vielmehr mit dem Aufkommen von HIV/AIDS im Zusammenhang, das eine Debatte darum auslöste, wie man die Verbreitung dieser Krankheit am besten eindämmen könnte, was schließlich einen Kurswechsel in der Gesetzgebung veranlasste. Anstelle verpflichtender regelmäßiger Kontrollen trat nun der Ausbau bzw. die Gewährleistung kostenfreier und anonymer Untersuchungs- und Behandlungsangebote für die gesamte Bevölkerung, was auch die Abschaffung der verpflichtenden Untersuchungen für Sexarbeiter*innen zur Folge hatte (BFSFJ 2005). Diese Strategie hatte sich zumindest aus Perspektive meiner Forschungsteilnehmerinnen bewährt, da die meisten trotz ihrer Kritik an der Aufklärungsarbeit in Bordellen positiv von den vom Gesundheitsamt unterhaltenen Zentren für sexuelle Gesundheit sprachen, wo sie je nach Bedarf diverse Tests und Untersuchungen anonym durchführen konnten. Susanne* beispielsweise machte regelmäßig Gebrauch, von diesem Angebot, obwohl sie über eine Krankenversicherung verfügte.

Die im Gesetz vorgesehenen Maßnahmen sind in diesem Sinne als Rückkehr zu alten Stereotypen zu verstehen. Und zwar zu denjenigen, die es auf den ersten Blick „sinnvoll“ erscheint lassen, Sexarbeiter*innen pauschal durch eine obligatorische Registrierung zu kontrollieren und zu Beratungen zu verpflichten, weil sie doch vermeintlich seit jeher besonders „gefährdet“ sind. Dass in Sachen Gesundheitsversorgung innerhalb der Sexarbeit noch viele andere Probleme bestehen (können), die allerdings fernab dieser Stereotype verortet sind, wird dabei kaum thematisiert. So stellt sich z.B. die Frage, durch wen bzw. wie Kosten für mögliche anfallende Behandlungen getragen werden, und was passiert, wenn Sexarbeiter*innen über diese Beratung hinaus medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Kurz gesagt, wie es um den Zugang zum Gesundheitssystem bestellt ist.

 

Zugangsfragen und Stigmatisierung im Gesundheitssystem

Gerade diese Frage nach möglichen Zugängen zum Gesundheitssystem gerät in Debatten um Sexarbeit häufig in Vergessenheit. Die im Gesetzesentwurf vorgesehene Beratung zielt zwar auf Prävention ab, was im besten Fall bedeutet, dass Untersuchungen und Behandlungen nicht notwendig sind, jedoch ist anzunehmen, dass Sexarbeiter*innen im Laufe ihres Lebens möglicherweise doch gelegentlich medizinische Leistungen in Anspruch nehmen müssen oder wollen – und sei es „bloß“ für eine hartnäckige Erkältung.

Dass dieses Thema selten im Blickpunkt der Debatten um Sexarbeit steht, hängt ebenfalls mit der Stigmatisierung von Sexarbeit zusammen, durch die Menschen in der Sexarbeit und ihre potentiellen Probleme auf den Faktor Sexarbeit reduziert werden und dabei vergessen wird, dass Sexarbeit nur einen Aspekt im Leben dieser Menschen darstellt. Anders gesagt: Die Ursachen für den Bedarf an medizinischen Untersuchungen oder Behandlungen müssen nicht zwangsweise in der Sexarbeit liegen. Ebenso lassen sich manche Bedarfslagen nicht rein durch Beratung lösen, z.B. wenn die Ursache für Mangelernährung nicht im Unwissen, sondern in einer prekären ökonomischen Situation liegt und man sich z.B. gewisse Nahrungsmittel nicht leisten kann.

Debatten um Regelungen wie die vorgeschlagene Registrierungspflicht und verpflichtende Gesundheitsberatung zum Schutz von Sexarbeiter*innen wirken in dieser Hinsicht schon beinahe sarkastisch: Einerseits wollen sie zwar den Schutz der „bedürftigen“ Sexarbeiter*innen in den Vordergrund stellen, andererseits sind es aber genau diejenigen Sexarbeiter*innen, die aus verschiedenen Gesichtspunkten als strukturell vulnerabel (Quesada et al. 2011) bezeichnet werden können, die vom mangelnden Zugang zum Gesundheitssystem stärker betroffen sind, z.B. weil sie sich in einer finanziell prekären Lage befinden und Behandlungskosten nicht aufbringen können.

Wie Castañeda et al. (2015) am Beispiel Migration verdeutlichen, ist für eine Analyse und schließlich auch eine Verbesserung solcher Problemlagen eine Perspektive notwendig, die strukturelle Faktoren inkludiert (und kritisiert) und z.B. prekäre Lebenslagen nicht rein als individuelle Probleme begreift, die schlichtweg durch ausreichend Beratung verbessert werden können. Im Zusammenhang mit Sexarbeit würde das unter anderem bedeuten, einerseits die rechtlichen Rahmenbedingungen und ihre Implikationen für den Lebens- und Arbeitsalltag von Sexarbeiter*innen, andererseits aber auch die Auswirkungen der Stigmatisierung zu berücksichtigen.

Das zeigt sich unter anderem in der Frage nach Krankenversicherung für Sexarbeiter*innen in Deutschland. Einerseits bestimmen z.B. Aufenthaltsstatus, Sprachkenntnisse und Zugang zu Informationen die Möglichkeiten einer Versicherung in Deutschland, andererseits können auch diejenigen, die eine Versicherung abschließen möchten, dabei auf Probleme stoßen: Auch wenn es gesetzlich betrachtet für Sexarbeiter*innen zwar theoretisch möglich ist, ein Angestelltenverhältnis einzugehen, so ist ein solches Verhältnis unter anderem aufgrund der hohen Mobilität in der Sexarbeit (z.B. häufige Arbeitsplatzwechsel auch innerhalb einer Stadt) in den seltensten Fällen praktikabel. Viele Sexarbeiter*innen arbeiten als Selbstständige und müssten dementsprechend eine Krankenversicherung für Selbstständige abschließen, deren Mindestbetrag sich momentan auf ungefähr 350 Euro pro Monat beläuft – eine Summe, die ebenfalls für gerade diejenigen in prekären finanziellen Verhältnissen ein Hindernis darstellen kann (und dabei ein Problem ist, das sich nicht nur auf die Sexarbeit beschränkt).

Zusätzlich hat sich im Rahmen meiner Forschung gezeigt, dass sich diese Problematik nicht auf die grundsätzliche Frage nach Möglichkeiten der Krankenversicherung beschränkt. Meine Forschungsteilnehmerinnen waren bis auf eine Ausnahme alle in Deutschland versichert und dementsprechend in der Lage, ihren Bedürfnissen entsprechend Ärzt*innen aufzusuchen, ohne (in den meisten Fällen) lange über die Kosten der Behandlung nachzudenken. Manche wie z.B. Marlene* hatten ihre „Stammärzt*innen“, zu denen ein Vertrauensverhältnis bestand und die über die Berufswahl meiner Forschungsteilnehmerinnen Bescheid wussten. Ein vertrauensvolles Verhältnis zu Ärzt*innen ist allerdings nicht immer gegeben, weswegen einige Sexarbeiterinnen nicht „einfach mal so“ zu Ärzt*innen gehen wollen oder können, wie Andrea* es beschrieb:

Wir wissen halt, wo wir hingehen können [zu welchen Ärzt*innen, Anm. d. Verf.] , wo man halt nicht sein Leben dann irgendwie offenbaren muss. Dann geht man halt zum Gesundheitsamt Charlottenburg, also das würd’ ich jetzt Frauen auch immer empfehlen, da gibt’s halt dann eben einfach die Untersuchungen, also AIDS-Test kann man dort anonym machen und das ist dann schon sehr angenehm und viele Frauen nutzen hier eben auch die Gesundheitsämter.“

In dieser Aussage lassen sich zwei Problemstellungen erkennen: Einerseits die Bedeutung der Wahrung der Anonymität für Sexarbeiterinnen, die durch den Gesetzesentwurf nicht nur anhand der Gesundheitsberatung, sondern vor allem auch durch die Registrierungspflicht gefährdet wird, andererseits die manchmal problematische Beziehung zu Ärzt*innen, da auch medizinisches Personal die Berufswahl von Sexarbeiterinnen oftmals in Frage stellt. Susanne* hatte dieses Problem allgemein angesprochen, als sie davon sprach, dass ihr Job häufig als etwas wahrgenommen wird, “was eigentlich nichts Richtiges ist und eher so eine Übergangslösung, das man ja nicht wirklich ernst meinen kann. Ich mag’s auch immer nicht, wenn man dann so anfangen muss, sich zu rechtfertigen […]”.

Dass solche Rechtfertigungen mitunter auch von Ärzt*innen eingefordert werden, zeigte das Beispiel von Elisa*. Elisa* benötigte für einen Pornodreh eine Bescheinigung darüber, dass sie infektionsfrei sei – und nannte diese Begründung auch bei ihren Ärzt*innen. Die erste Ärztin, die sie dafür aufsuchte, reagierte laut Elisas* Schilderungen auf die Anfrage “gestresst”, seufzte und meinte dazu: “Wenn ich [Elisa, Anm. d. Verf.] sowas unbedingt machen müsse…”. Elisa* suchte daraufhin einen weiteren Arzt auf, der auf ihre Anfrage mit “Pass auf, Kleine, jetzt beruhig dich mal, was ist denn passiert?” antwortete. Als Elisa* klargestellt hatte, dass gar nichts passiert war und sie den Test aus beruflichen Gründen brauche, wurde sie mit der Frage konfrontiert, ob sie sich etwa “ein Taschengeld neben dem Studium verdienen” wollte. Elisa* berichtete aufgebracht von dieser Situation, da es sich dabei für sie um die Ausnutzung eines Machtverhältnisses handelte und sie nicht einsah, so behandelt zu werden in einem Land, in dem Sexarbeit als legaler Beruf anerkannt wird. Die weiterhin gegebene stigmatisierende Behandlung durch gesundheitliches Personal zeigt ein weiteres Problem einer verpflichtenden Gesundheitsberatung auf – nicht nur was beraten wird, ist zu hinterfragen, sondern auch wie beraten wird.

 

Ein notwendiger Perspektivenwechsel

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Maßnahmen wie eine Registrierungspflicht und verpflichtende Gesundheitsberatung für Sexarbeiter*innen viel eher auf Stereotypen beruhen als auf den vielfältigen Bedürfnissen von Sexarbeiter*innen in Sachen Gesundheit. Bei der Fokussierung auf die Prävention von sexuell übertragbaren Krankheiten und Empfängnisverhütung handelt es sich um die Fortschreibung eines bereits jahrhundertealten Bildes der Sexarbeiterin als „Gefahr für die öffentliche Gesundheit“, während gleichzeitig anderweitige gesundheitliche Fragen oder Problemlagen wie z.B. die Frage nach dem Zugang zum Gesundheitssystem durch dieses vorgeschlagene Gesetz und die Debatten darum weitgehend unberührt bleiben.

Um die gesundheitliche Versorgung von Sexarbeiter*innen zu gewährleisten bzw. zu verbessern ist also nicht eine Fortführung altbekannter stigmatisierender Maßnahmen notwendig, sondern vielmehr ein Perspektivenwechsel, der gesundheitliche Probleme in der Sexarbeit abseits von Stereotypen begreift. Eine Möglichkeit dafür stellt z.B. die von Alexander (1998) vorgeschlagene Abkehr von dem Verständnis der Sexarbeit als public health Problem hin zu einem Verständnis, das Gesundheitsthemen in der Sexarbeit als Frage der occupational health (Gesundheit am Arbeitsplatz) begreift. Sich in Gesundheitsfragen nicht nur auf den „Sex“, sondern auch die „Arbeit“ in der Sexarbeit zu konzentrieren, würde es ermöglichen, Punkte wie die oben angesprochenen Fragen nach der Vermeidung von Blasenentzündungen oder orthopädischen Problemen in Beratungsprogramme zu integrieren und insgesamt ein breiteres Spektrum an Beratungsangeboten zu gewährleisten, durch das potentiell auch mehr Sexarbeiter*innen angesprochen werden könnten.

Damit einhergehend ließen sich Sexarbeiter*innen auch nicht mehr bloß als hilfs- und schutzbedürftige Beratungsklient*innen begreifen, sondern vielmehr als Expert*innen für die Problemstellungen ihrer Arbeitswelten, deren Knowhow und Wissen in die Gestaltung von Beratungsangeboten einfließen sollte. Ein solcher Ansatz wird momentan zwar schon durch vereinzelte Peer-Projekte, bei denen Sexarbeiter*innen anderen Sexarbeiter*innen Beratung geben (wie z.B. durch Hydra e.V. in Berlin), verwirklicht, findet allerdings noch keine breite Anwendung. Bieten Ansätze der Peer Education einerseits erfahrenen Sexarbeiter*innen die Möglichkeit, ihr Wissen weiterzugeben, würde ein stärkerer vorurteilsfreier Kontakt zur „Basis“ andererseits auch eine Möglichkeit darstellen, die Bedürfnisse und möglichen Probleme derjenigen Sexarbeiter*innen zu erfassen, die momentan über wenige bis keine Ressourcen oder Möglichkeiten verfügen, sich in Debatten um Sexarbeit einzubringen. Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass eine Verbesserung der Situation von Sexarbeiter*innen – nicht nur in gesundheitlichen Belangen – nicht ohne eine Bekämpfung der Stigmatisierung dieser Tätigkeit und Mitspracherechte der Betroffenen einhergehen kann. Einen solchen Beitrag leistet der vorgelegte Gesetzesentwurf – auch in seiner „entschärften“ Fassung – allerdings nicht.

 

Fußnoten

[1] Cis- bedeutet (in Gegenüberstellung zu Trans-), dass es sich dabei um Menschen handelt, deren geschlechtliche Identität mit derjenigen übereinstimmt, die ihnen gesellschaftlich zugeschrieben wird.

[2] Bei mit * gekennzeichneten Namen handelt es sich um Pseudonyme.

 

Zur Autorin

Ursula Probst hat 2014 ihr Studium der Sozial- und Kulturanthropologie am Institut für Ethnologie (Freie Universität Berlin) mit einer Arbeit zu Beratungsangeboten für Sexarbeiterinnen in Berlin abgeschlossen. Die Arbeit wurde 2015 beim Weißensee Verlag veröffentlicht. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Medizinanthropologie und in der Auseinandersetzung mit Fragen zu sexuellen und reproduktiven Rechten.

 

Literatur

Alexander, Priscilla. 1998. Sex Work and Health: A Question of Safety in the Work Place. In: JAMWA 53 (2), 77-82.

BesD. 2015. Stellungnahme und Alternativ-Vorschläge des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen zum den von der CDU/SPD beschlossenen Eckpunkten eines Gesetzes zum Schutz der in der Prostitution Tätigen (Prostituiertenschutzgesetz, ProstSchG), veröffentlicht am 02. September 2015. http://berufsverband-sexarbeit.de/blog/wp-content/uploads/Stellungsnahme-des-BesD-zum-Eckpunktepapier-September-2014.pdf. Letzer Zugriff am: 25.10.2015.

BFSFJ. 2015. Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen. Referentenentwurf, veröffentlicht am 29.07.2015.

BFSFJ. 2005. Untersuchung „Auswirkung des Prostitutionsgesetzes“. Abschlussbericht vorgelegt von: Sozialwissenschaftliches Frauenforschungsinstitut, Kontaktstelle praxisorientierte Forschung der evangelischen Fachhochschule Freiburg. Herausgegeben vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

bufas. 2015. Stellungnahme zum „Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen“ (Prostituiertenschutzgesetz, ProstSchG) des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), veröffentlicht im September 2015. http://bufas.net/DOKUMENTE/bufas%20Stellungnahme%202015-09-10.pdf. Letzter Zugriff am: 25.10.2015.

Castañeda, Heide, Seth M. Holmes, Daniel S. Madrigal, Maria-Elena DeTrinidad Young, Naomi Beyeler & James Quesada. 2015. Immigration As a Social Determinant of Health. In: Annual Review of Public Health 36, 375-392. doi:10.1146/annurev-publhealth-032013-182419.

CDU/CSU. 2015. Bundesfrauenministerium bricht Vereinbarung zu Lasten schutzbedürftiger Prostituierter. Pressemitteilung, veröffentlicht am 27. November 2015. https://www.cducsu.de/presse/pressemitteilungen/bundesfrauenministerium-bricht-vereinbarung-zu-lasten-schutzbeduerftiger-prostituierter. Letzter Zugriff am: 30.11.2015.

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