Medizinethnologie

Ethik und Ethnologie: Ethikkommissionen, ethnographisches Arbeiten und Epistemologie – nicht nur in der Medizinethnologie

Hansjörg Dilger

EthnologInnen in Deutschland haben es gut: Sie müssen keine Ethikgenehmigung für ihre Feldforschungen einwerben oder befürchten, dass ihre Forschung als „unethisch“ gilt, wenn sie nicht das Begutachtungsverfahren einer Ethikkommission durchlaufen hat. Damit unterscheidet sich die Ethnologie von den Medizin- und Gesundheitswissenschaften, wo jede Forschung mit und an menschlichen Subjekten ausschließlich mit Erlaubnis einer – in der Regel institutionsinternen – Ethikkommission gestattet ist. Auch in Ländern wie den USA müssen Forschungen jeglicher Art, die mit Menschen zu tun haben – und daher auch der Ethnologie – die Ethikgenehmigung eines Institutional Review Board (IRB) erhalten, bevor sie mit dem Forschungsprozess beginnen können. Solche IRBs sind inzwischen zu mächtigen bürokratischen Einrichtungen innerhalb von Universitäten und Forschungseinrichtungen geworden, die strikt über die Einhaltung ethischer Vorgaben wie den Nutzen von Forschungen für die, und den Respekt gegenüber den, ForschungsteilnehmerInnen wachen – und die gleichzeitig fordern, dass jede Änderung am einmal genehmigten Forschungsdesign den Prozess der ethischen Begutachtung von Neuem durchläuft.

In diesem Blogbeitrag denke ich darüber nach, auf welchem Stand sich die Diskussion über ethisches Arbeiten in der (Medizin-)Ethnologie in Deutschland befindet. Zwar gibt es keine institutionelle Einrichtung innerhalb des Fachs – und in der Regel auch nicht an den Universitäten, in die ethnologische Institute eingebunden sind –, die eine Begutachtung der ethischen Aspekte ethnologischer Forschung systematisch einfordern würde. Gleichzeitig heißt dies aber nicht, dass das Thema Ethik innerhalb der Disziplin nicht von Bedeutung ist: So verabschiedete der Wissenschaftsverband der Ethnologie, die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde, im Jahr 2009 eine Ethikerklärung; und bereits 2001 bzw. 2005 formulierten einzelne Arbeitsgruppen der DGV – so die AG Entwicklungsethnologie  und die AG Medical Anthropology – eigene Ethikerklärungen. Darüber hinaus haben in den letzten Jahrzehnten aber auch theoretische Debatten zur Postkolonialität, zur Writing Culture, sowie zum Engagement und zu unterschiedlichen Formen der Anwendungsorientierung von EthnologInnen die Fachkultur maßgeblich geprägt: Zusammengenommen haben diese Debatten einen Rahmen geschaffen für eine kontinuierliche Reflexion über Wertvorstellungen des ethnographisch-ethnologischen Arbeitens sowie über die eigene Positionalität und Verantwortung innerhalb von Forschungs- und Lehrzusammenhängen. Diese Reflexionen über eine verantwortungsvolle Ethnologie schließen somit – neben den ForschungsteilnehmerInnen – auch Studierende, andere ForscherInnen, Förderorganisationen und die weitere Öffentlichkeit mit ein.

Dieser Beitrag nimmt einerseits Bezug auf das Feld der Medizinethnologie, in dem EthnologInnen mit menschlichem Leiden und Konflikten auf eine Art und Weise konfrontiert werden, die Fragen nach Verantwortung, Respekt und den eigenen Handlungsmöglichkeiten in besonderem Maße aufwirft. Zudem forschen MedizinethnologInnen häufig auch in Einrichtungen der Medizin selbst, wo sie – ohne eigenes Zutun – mit Ethikkommissionen in Krankenhäusern konfrontiert werden, oder sie werden beim Einreichen von Forschungsanträgen bzw. der Beantragung von Forschungsgenehmigungen im Ausland aufgrund ihrer Themennähe zur Medizin auf die Notwendigkeit einer Ethikgenehmigung verwiesen. Am Beispiel eigener Feldforschungserfahrungen in Tansania zeige ich daher im zweiten und dritten Teil des Texts, wie unter solchen Bedingungen einsetzende Modi der interdisziplinären Begutachtung auf signifikant unterschiedliche Fachkulturen verweisen, die häufig in Bezug auf ihre Methodologie und ihren Erkenntniszugang – und damit auch hinsichtlich der Formulierung eines ethisch verantwortlichen Forschungsansatzes – nicht kompatibel sind. Abschließend stelle ich vor diesem Hintergrund daher andererseits Fragen, die für das Fach Ethnologie insgesamt von Interesse sind: Welche Art der Auseinandersetzung über ethische Werte und Prinzipien in der ethnologischen Forschungskultur sind erstrebenswert? Ist eine Institutionalisierung der Überprüfung ethischer Herangehensweisen in der ethnologischen Forschung sinnvoll – und ist sie überhaupt aufzuhalten? Wie können wir sicherstellen, dass im Lauf einer solchen Institutionalisierung die spezifischen Stärken ethnographischen Arbeitens – Offenheit, Dialog und Reflexivität – erhalten bleiben?

 

Zwischen Institutionalisierung und Reflexivität: Ethikdebatten in der Ethnologie

Anthropologists in the postcolonial, postmodern and post-9/11 world can expect “the field” to be a far more complicated prospect than it has been for previous generations. The assumption, from another era, that anthropological researchers can go anywhere and do anything is simply no longer operative. (Fluehr-Lobban 2013: 157)

20 Jahre sind vergangen, seit die Debatte um Ethik und Moral in der Ethnologie einen vorläufigen erhitzten Höhepunkt in der US-amerikanischen Cultural Anthropology erreichte. In seinem Beitrag zur Current Anthropology wandte sich Roy D‘Andrade (1995) damals gegen eine von ihm als „moral model“ bezeichnete Form der Ethnologie, die jede Art „objektivierenden Wissens“ als Fortschreibung kolonialer Wissenstraditionen und Teil der Herstellung von „Unterdrückung“ (1995: 400) und „Dominanz“ (401) deklariere. Notwendig für die Disziplin sei hingegen, eine scharfe Trennlinie zwischen objektiven und moralischen Ansätzen aufrechtzuerhalten: EthnologInnen könnten durchaus politisch sein, sollten dieses Engagement aber von ihrer eigentlichen Arbeit – die durchaus in der komplexen Analyse von Machtbeziehungen und Phänomenen der Unterdrückung bestehen könne – trennen (407).

Nancy Scheper-Hughes, die in der gleichen Ausgabe der Current Anthropology als Vertreterin einer solchen „moralischen“ – oder von ihr als „militant“ bezeichneten  – Ethnologie schrieb, warb wiederum für ein Fachverständnis, in dem ethisches Denken und Handeln als präkultureller Wert begriffen würden: Ethnographie müsse in erster Linie ein „tool for critical reflexion and human liberation” (418) sein – und EthnologInnen dürften sich nicht länger als „neutral, dispassionate, cool and rational, objective observer“ gerieren (410). Nur eine Ethnologie, die moralisch und ethisch über die von ihr untersuchten Institutionen nachdenke, sei etwas „wert“ (410): Warum würden EthnologInnen ansonsten überhaupt Prozesse von Gewalt und Leiden untersuchen? Seien auch sie bereits durch die mediale Bilderflut abgestumpft und würden Leiden zu einem „Theater“ und „Aufführung“ (performance) vor ihren Augen werden lassen (417)?

Seit der über die Current Anthropology angestoßenen Debatte – die damals von prominenten FachvertreterInnen wie Vincent Crapanzano, Adam Kuper, Laura Nader und Paul Rabinow ebenso kontrovers kommentiert wurde – hat sich der Ton der Auseinandersetzung über Fragen der Ethik in der Ethnologie stark entschärft. Auf der einen Seite haben die unterschiedlichen nationalen Fachkulturen dabei Institutionalisierungsprozesse durchlaufen, aus denen im Jahr 1998 der „Code of Ethics“ der American Anthropological Association (AAA) und im Jahr 1999 die „Ethical Guidelines“ der Association of Social Anthropologists of the UK and the Commonwealth (ASA) hervorgegangen sind. Beide Ethikerklärungen reflektieren in detaillierter Weise über die vielschichtigen Verantwortungen von EthnologInnen in Forschung und Lehre – und der Code der AAA betont explizit, dass er keine „in Eisen gegossene Formulierungen“, sondern in erster Linie einen Rahmen für die Reflexion über ethisches Verhalten in Bezug auf mögliche Wertkonflikte erzeugen will. Gleichzeitig sind jedoch gerade EthnologInnen in den USA mit Ethikkommissionen in ihren eigenen Universitäten und Forschungseinrichtungen konfrontiert, die – jenseits selbstverpflichtender ethischer Empfehlungen ihrer Fachgesellschaft – jegliche Forschungen, die mit Menschen zu tun habe, in maßgeblicher Weise bestimmen. Ihre heutige Prägung erhielten die Institutional Review Boards (IRBs) dabei bereits Anfang der 1980er Jahre[1], einerseits mit Bezug auf die medizinischen Experimente während der Nazizeit, andererseits vor dem Hintergrund einer medizinischen Studie zur Syphilis in Tuskegee (1932-1972), die die afroamerikanischen StudienteilnehmerInnen – trotz der ab den 1950er Jahren verfügbaren Standard-Behandlung mit Penicillin – unbehandelt ließ.

Institutionelle Schritte zur Regulierung von Forschungen, die um den Schutz von menschlichen Forschungssubjekten bemüht waren, sind vor diesem Hintergrund als wichtige und sinnvolle Maßnahmen zur Sicherstellung verantwortungsvollen Forschens zu werten. Allerdings sind die IRBs in den USA heute vielerorts zu einem hochbürokratisierten Kontrollapparat ausgewachsen, der oft weniger mit Forschungsethik als mit „research governance“ und „risk management“ für die rechtlich potenziell haftbaren Universitäten und Forschungseinrichtungen zu tun hat (Droogsma Musoba, Jacob & Robinson 2014: 3). Des Weiteren ist dieser Kontrollapparat primär auf die Begutachtung von Forschungsansätzen ausgerichtet, die mit klar umrissenen Hypothesen, Methoden und Forschungs-Samples arbeiten und die tendenziell die „Schließung“ eines Forschungsthemas zum Ziel haben. Für ethnographische Forschungsansätze, die prinzipiell offen angelegt sind und die nach unerwarteten – oft überraschenden – Bedeutungen und Praxen suchen, bedeutet er hingegen eine Reglementierung, die das Arbeiten von EthnologInnen tendenziell verunmöglicht (gerade wenn Flexibilität in Bezug auf Forschungsorte, Interview- und GesprächspartnerInnen sowie spezifische Themensetzungen erforderlich ist) (Bourgois 1990).

Auch in Deutschland verabschiedete der Wissenschaftsverband der Ethnologie, die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde (DGV), im Jahr 2009 eine Ethikerklärung, die offen angelegte Fragen zum ethisch verantwortungsvollen Forschen in der Disziplin formuliert und die primär an der Menschenrechtserklärung im Kontext globaler Verflechtungen orientiert ist. Im Wesentlichen appelliert die DGV-Erklärung dabei an die Verantwortung der Forschenden, „die Implikationen und Konsequenzen eigener Forschungspraxis und Forschungsdaten im Blick auf lokale und globale Machtbeziehungen zu klären“ – und betont dabei gleichzeitig, „individueller Würde und Verantwortung gegenüber kollektiven Interessen“ den Vorrang zu geben. Angesichts der vergleichsweise späten Entscheidung der DGV, eine Ethikerklärung zu verabschieden, haben einzelne Arbeitsgruppen des Wissenschaftsverbands zudem bereits Anfang der 2000er Jahre ihre eigenen Ethikerklärungen formuliert: So verabschiedete die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsethnologie im Jahr 2001 (in der überarbeiteten Version 2013) ihre „Ethischen Leitlinien“, die Arbeitsgemeinschaft Medical Anthropology im Jahr 2005 ihre „Leitlinien zur ethischen Selbstreflexion“.

Zusammenfassend ist für die Situation in Deutschland somit zum einen die spät einsetzende, bis heute eher lose Formalisierung der Ethikdiskussion innerhalb ethnologischer Wissenschaftsvereinigungen kennzeichnend, sowie zum anderen die weitgehende Nicht-Institutionalisierung ethischer Begutachtungsverfahren im Fach. So müssen EthnologInnen, die eine Feldforschung planen, in der Regel keine Ethikgenehmigung für ihr Vorhaben einholen und keine bürokratischen Verfahren durchlaufen, um mit ihrer Forschung beginnen zu können. Dieser geringe Grad von Formalisierung und Institutionalisierung hat Vorteile, da sich Diskussionen über verantwortungsvolles Forschen primär an Fachdebatten orientieren können, die das Forschen von EthnologInnen in den letzten Jahrzehnten nachhaltig geprägt haben und die Reflexivität im Forschungsprozess auf immer neue Weise – und in weitaus differenzierterer Form als die oben zitierte Auseinandersetzung in der Current Anthropology – einfordern. Insbesondere hat die postkoloniale Theorie dabei ein Bewusstsein dafür geschaffen, wie ethnologische Forschungen in einer verflochtenen Welt bis heute durch ungleiche Ressourcenverteilungen sowie die Kontrolle über die Wissensproduktion entlang historisch etablierter Machtgefälle bestimmt werden (Conrad & Randeria 2002) – und welche Anstrengungen unternommen werden müssen, damit „subalterne Stimmen“ in nicht-bevormundender Weise Teil der Fachdiskussionen werden. Die Writing Culture-Debatte wiederum hat den Objektivitätsanspruch kolonialer Forschungstraditionen nachhaltig in Frage gestellt und neue Formen des ethnographischen Schreibens gefordert – und ist mittlerweile selbst in Bezug auf ihren starken Fokus auf den Schreibprozess, sowie die von ihr weitgehend ausgeklammerte Beziehung zwischen epistemologischer Differenz und Repräsentationspraktiken, kritisch beleuchtet worden (Zenker & Kumoll 2010). Anwendungsorientierte Ansätze schließlich formulierten vielfältige Wege für eine „engagierte Ethnologie“, die nicht notwendigerweise eine unmittelbare Übersetzung von Forschungsergebnissen in gesellschaftspolitische Zusammenhänge bedeuten muss, sondern eine Bandbreite von Möglichkeiten bereit stellt, durch die ethnologische Ergebnisse in nicht-akademische Zusammenhänge eingebracht werden können (Antweiler 1998).

Die hier genannten Debatten können nur einen Ausschnitt aus den theoretischen Diskussionsfeldern wiedergeben, die die Auseinandersetzung über verantwortungsvolles Forschen in der deutschsprachigen und internationalen Ethnologie in den letzten beiden Jahrzehnten geprägt haben. Ohne dies an dieser Stelle vertiefen zu können, lässt sich dabei zusammenfassend sagen, dass die Kontrastierung zwischen „objektiven“ oder „moralischen“ Ansätzen, wie sie noch in den 1990er Jahren explizit problematisiert wurde, in den Hintergrund getreten ist. An ihre Stelle ist das Verständnis von Ethnologie als einer Wissenschaft getreten, die der Subjektivität von ForscherInnen – und ihrer eigenen, auch moralischen Involviertheit in den Prozess der Wissensproduktion – konsequent Raum gibt. Ein solches Fachverständnis ist weniger an normativen Dichotomien orientiert, sondern zielt auf die Integration verschiedener theoretischer Ansätze der Disziplin ab und betrachtet alle Facetten der Positionalität von Forscherinnen als Teil eines Feldes von Beziehungen, die in ihrer Relationalität – zu ForschungspartnerInnen, Förderinstitutionen, der weiteren Gesellschaft etc. – erklärt und reflektiert werden muss. Nach Stoczkowski (2008: 352[2]) ist das Hinterfragen der eigenen moralischen Werte dabei ein zentrales „Forschungsinstrument“, das ForscherInnen nicht nur hilft, die moralischen Diskurse und Praktiken der von ihnen untersuchten Gruppen und Personen besser zu erfassen, sondern gerade auch in den Fällen, in denen die eigenen Werte bestimmte Sichtweisen auf das Feld verhindern, ethnographisches Arbeiten „epistemologisch  solide“ zu machen. In einer solchen Sichtweise werden Aktivismus (Huschke 2015) und Engagement von EthnologInnen (Minn 2015), oder auch ihre religiösen Hintergründe (Stewart 2001) bzw. ihre eigene emotionale Involviertheit in Feldsituationen (Stodulka 2015) nicht länger zu einem „Problem“ des ethnographischen Arbeitens. Vielmehr werden sie als konstanter Bestandteil einer reflexiven Ethnologie konzipiert, die diesen Denkansatz systematisch in allen Phasen ihres Arbeitens – der Datenerhebung und -Auswertung, der Rückwirkung von Forschungsergebnissen in „das Feld“, und nicht zuletzt die Lehre und Ausbildung von NachwuchsforscherInnen – integriert (Dilger et al. 2015: 5).

 

Hexerei, Gerüchte, Viren, und Geister: Ethnographisches Arbeiten und Ethikkommissionen im Kontext von HIV/AIDS

Bisher habe ich gezeigt, dass EthnologInnen vielschichtige Debatten geführt haben, wie das eigene Arbeiten ethisch verantwortungsvoll gemacht werden kann und auf welche Weise die theoretischen Postulate der letzten Jahrzehnte konkret in ethnographisches Arbeiten übersetzt werden können. Gleichzeitig bleibt das Einhalten ethischer Standards in Deutschland jedoch Teil der professionellen Selbstverpflichtung – und wird durch keine Ethikkommission oder Wissenschaftsvereinigung verpflichtend eingefordert. Im Folgenden zeige ich daher am Beispiel meiner zum Leben mit HIV/AIDS in Tansania durchgeführten Feldforschung (1999 bis 2003), wie auch deutsche EthnologInnen dem Begutachtungsprozess von Ethikkommissionen unterworfen werden können und welche Herausforderungen sich dabei für die Konzipierung des methodologisch-theoretischen Vorgehens ergeben, das in diesem Rahmen nicht primär an ethnologischen Fachdebatten gemessen wird. Der Fokus meiner Darstellung liegt dabei weniger auf Fragen nach Reziprozität oder Engagement – und auch nur begrenzt auf Aspekten von Vertraulichkeit und Transparenz – im Forschungsprozess, sondern vielmehr darauf, in welcher Weise „epistemologische Solidität“, die einen der Kernwerte ethisch verantwortlichen Forschens darstellt (Stoczkowski 2008), durch solche Begutachtungsverfahren prinzipiell negiert wird (für eine weiterreichende ethnographische Analyse des Beispiels siehe Dilger 2011).

Meine Feldforschung im ländlichen und urbanen Tansania war eine breit angelegte Untersuchung der Lebenssituationen von Menschen mit HIV/AIDS und der Frage, in welcher Weise diese im Lauf ihrer (Anfang der 2000er Jahre meist tödlich verlaufenden) Erkrankung Unterstützung durch ihre familiären, sozialen und/oder religiösen Netzwerke erhalten (vgl. Dilger 2005). Auf der Basis einer ethnographischen Langzeitforschung wollte ich diesen Fragen insbesondere im Kontext von Land-Stadt-Migration nachgehen: Nicht nur ist das soziale und wirtschaftliche Leben in Tansania durch einen hohen Grad an Mobilität geprägt und ländliche Familien sind häufig stark auf die finanzielle Unterstützung ihrer in den Städten lebenden Verwandten angewiesen. Auch war mir aus einem früheren Aufenthalt bewusst, dass Menschen mit HIV/AIDS, die in urbanen Zentren arbeiten oder Handel treiben, bei einem Fortschreiten ihrer Erkrankung häufig in ihre ländlichen Herkunftsregionen zurückkehren, wo sie gepflegt und in der Regel auch beerdigt werden.

Ein zentrales Thema in diesen, oftmals über weite geographische Distanzen aufgespannten Lebenszusammenhängen war somit zum einen die Frage nach Solidarität und wer bereit war, die Verantwortung für kranke, sterbende oder auch bereits verstorbene Angehörige und Gemeindemitglieder zu übernehmen. Zum anderen stellte sich für die Betroffenen und ihre Umgebung aber immer auch die Frage nach der eigentlichen Ursache der Erkrankung, die eine kontinuierliche Quelle von Unsicherheit, sowie für Hoffnung im Umgang mit dem erfahrenen Leiden darstellte: War die Erkrankung wirklich einer HIV-Infektion zuzuschreiben, die in weiten Teilen Tansanias bis heute stark stigmatisiert ist, und die gegenüber dritten Personen oftmals geheim gehalten wird (Bohle, Dilger & Gross 2014)? War die Ursache nicht vielmehr in einem Akt von Hexerei zu suchen, den missgünstige Mitmenschen gegenüber den betroffenen Personen aufgrund ihres wirtschaftlichen oder sozialen Erfolgs ausgeübt hatten? Oder handelte es sich um das Einwirken von bösen Geistern, die insbesondere in Pfingstkirchen als Erklärung für körperliche und mentale Leiden ihrer Mitglieder herangezogen wurden? Alle diese „alternativen“ Denkweisen HIV-bezogener Erkrankungen waren unmittelbar an Möglichkeiten der Behandlung bzw. Heilung gekoppelt, die in Tansania auch im Kontext antiretroviraler Therapien weiterhin florieren, wie der rezente Erfolg des „Wonder of Loliondo“ zeigt (Mattes 2014; vgl. auch Meier zu Biesen 2014).

Während die Durchführung der Feldforschung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert wurde und der Forschungsantrag damit einen Prozess der Begutachtung durch unabhängige GutachterInnen durchlaufen hatte, waren die ethischen Aspekte der Feldforschung in keinem Moment Bestandteil dieser Begutachtungssituation gewesen. Die ethischen Aspekte meiner geplanten Feldforschung wurden erst im Rahmen meines Antrags auf Forschungsgenehmigung an die Commission for Science and Technology (COSTECH) in Tansania selbst thematisiert, die meinen Antrag wiederum an das National Institute for Medical Research (NIMR) weiterleitete – mit der Begründung, dass  das NIMR eine ethical clearance auszustellen habe, bevor mein Antrag auf Forschungsgenehmigung weiterbearbeitet werden könne. Diese Einbeziehung einer medizinischen Institution in die Begutachtung meines Forschungsantrags war für mich zum einen  überraschend, da mein Forschungsantrag – mit seinem Fokus auf familiäre Beziehungen, die Unterstützung und Fürsorge durch NGOs und Kirchen, und schließlich „traditionelle Heilungen“ und Trauerrituale – weniger an Public Health-Fragen orientiert war, sondern an klassischen Fragestellungen der Ethnologie bzw. Social und Cultural Anthropology. Zum anderen erschien mir die Entscheidung von COSTECH, das Ausstellen der Ethikgenehmigung durch das NIMR vornehmen zu lassen, jedoch schon damals die einzig mögliche Option der Forschungsbehörde. Da meine Untersuchungsgruppe „HIV-infizierte Männer und Frauen“ bzw. auch „AIDS-kranke Menschen“ umfasste, wäre es sowohl für die Sachbearbeiter von COSTECH als auch für mich selbst schwer vorstellbar gewesen, bei einer solchen Forschung nicht auf die ethischen Grundlagen der Gesundheitsforschung zurückzugreifen: Schließlich waren es Mediziner, Entwicklungsexperten und AIDS-Aktivisten, die in den ersten Jahren der Epidemie ethische Richtlinien für die persönlichen, institutionellen und staatlichen Antworten auf die Pandemie entwickelt hatten (African Networks on Ethics, Law and HIV 1994). Des Weiteren waren Gesundheitsforscher diejenigen gewesen, die ethische Richtlinien für die Forschung mit Menschen mit HIV/AIDS entwickelt hatten – insbesondere im Hinblick auf den Prozess der informierten Einwilligung bei klinischen Studien sowie bei der Durchführung von HIV-Tests und medizinischer Behandlung (vgl. Mashalla 1997; Wolf & Lo 2001; Bhutta 2002).

Die ethischen Standards, die ich für meinen Antrag an das NIMR entwarf, orientierten sich somit stark an den Richtlinien dieser medizinisch bzw. gesundheitswissenschaftlich orientierten Publikationen und beinhalteten unter anderem ein kurzes ForschungsStatement in Kiswahili (karatasi ya maelezo), das ich meinen jeweiligen InterviewpartnerInnen vorlas und in dem ich um Einwilligung zur Teilnahme an meinem Forschungsprojekt bat. Neben einer Beschreibung der Hauptziele meiner Forschung sicherte dieses Statement meinen InterviewpartnerInnen das Recht zu, Fragen über das Forschungsprojekt stellen und das Interview zu jedem Zeitpunkt des Gesprächs abbrechen zu können. Des Weiteren enthielt das Statement einen Absatz, der meinen GesprächspartnerInnen Vertraulichkeit bezüglich aller persönlichen Angaben zusicherte, die während der Interviews zur Sprache kamen. Den Titel meines Forschungsprojekts hatte ich den sprachlichen Gepflogenheiten einer medizinisch und Public Health-orientierten LeserInnenschaft angepasst und in den langwierig-deskriptiven Titel „How people living with HIV/AIDS and their families are coping with the disease in rural and urban Tanzania“ übersetzt.

Am ersten Ort meiner Forschung – verschiedenen NGOs in Dar es Salaam, die sich für die Verbesserung der Lebenssituationen von Menschen mit HIV/AIDS einsetzten und diverse medizinische, soziale und ökonomische Leistungen für diese bereitstellten – wurde die Art und Weise, wie ich die ethischen Implikationen meiner Forschung thematisiert hatte, positiv aufgenommen. Insbesondere war der Aspekt der Vertraulichkeit aufgrund des starken Stigmas, das mit HIV/AIDS in Tansania verbunden ist, von hoher Bedeutung für die meisten Männer und Frauen, die ich in Dar es Salaams NGOs interviewte. Des Weiteren hatten die Mitglieder von NGO-Selbsthilfegruppen – die oft explizit befürchteten, dass ihre HIV-Infektion in ihrer Familie oder in ihrer Nachbarschaft bekannt werden könnte – aber auch kein prinzipielles Problem damit, an einem Forschungsprojekt über „AIDS“ (ukimwi) teilzunehmen. Für sie war HIV die anerkannte Ursache ihrer Krankheit, und ihre Einstellungen und Handlungen gegenüber der Krankheit waren von den Praktiken des „Positiven Lebens“ geprägt (Dilger 2001). Eine Folge dieser Akzeptanz der biologischen Ursachen ihrer Krankheit war, dass die NGO-KlientInnen Themen wie „Hexerei“ oder „traditionelle Medizin“ oft nicht relevant fanden – oder aber sich über „traditionelle Heiler“ mokierten, die sie häufig als „Quacksalber“ und „Lügner“ bezeichneten.

Weniger eindeutig war das Sprechen über HIV/AIDS hingegen in anderen Kontexten meiner Feldforschung, die insbesondere eine Pfingstkirche in Dar es Salaam und (groß-)familiäre Netzwerke in der ländlichen Musoma-Region am östlichen Viktoriasee umfassten. Zwar gab es in beiden Zusammenhängen Personen, die von Anfang an offen mit mir über ihre eigene HIV-Infektion – oder aber eine Erkrankung Dritter – sprachen. Gleichzeitig wurden körperliches und nicht-körperliches Leiden in der Pfingstkirche aber auch auf das Wirken bösartiger Geistwesen und Hexen zurückgeführt, denen nachgesagt wurde, dass sie in die Körper der Kirchenanhänger eindringen und sie von ihrem „Pfad der Errettung“ abbringen würden. In den ländlichen (Groß-)Familien wiederum war das Sprechen über schwere bzw. tödlich verlaufende Krankheiten geprägt von Diskursen über Hexerei oder auch die Verletzung sozialer und moralischer Normen, die körperliches und mentales Leiden mit den weiteren sozialen, kulturellen und spirituellen Lebenszusammenhängen des betreffenden Individuums und seiner Familie in Verbindung brachten.

In allen diesen Situationen stellte ich rasch fest, dass es ethisch nicht vertretbar gewesen wäre, meine GesprächspartnerInnen direkt auf HIV/AIDS anzusprechen – oder aber ein Formular zum informed consent zu präsentieren, das einen solchen Bezug eindeutig herstellte. Einen Gesprächspartner direkt mit der Frage nach einer „HIV-Infektion“ oder „AIDS“ zu konfrontieren, hätte angesichts des starken Stigmas der Krankheit den Vorwurf impliziert, dass entweder der oder die InterviewpartnerIn selbst – oder aber ein Gemeinde- bzw. Familienmitglied – einen unmoralischen Lebenswandel führte bzw. geführt hatte. Im ländlichen Raum wählte ich daher den Einstieg über die Frage nach „schweren“ und „chronischen“ Krankheiten und danach, wie individuelle Personen und familiäre Netzwerke mit solchen Herausforderungen umgingen. In der Pfingstkirche wiederum wurde ich durch einen der Pastoren mit der Betonung eingeführt, dass ich an allen Formen spiritueller Heilung interessiert sei und dass ich auf die „offene“ Beantwortung meiner Fragen durch die ausgewählten InterviewpartnerInnen angewiesen sei. Eine Folge dieser allgemein gehaltenen Einführung war, dass ich in den folgenden Wochen und Monaten zu Beginn meiner Interviews oder informellen Gespräche nie sicher sein konnte, ob mein jeweiliger Interviewpartner mit HIV infiziert war und, wenn ja, ob er oder sie selbst darüber Bescheid wusste[3] bzw. mir dieses Wissen dann auch anvertrauen wollte. Nur wenige InterviewpartnerInnen öffneten sich in den Gesprächen und vertrauten mir an, dass sie HIV-positiv getestet worden waren. Bei anderen konnte ich nur vermuten, dass sie – aufgrund der Krankheiten und Symptome, von denen sie sprachen und die in Tansania zu allgemein verwendeten Metaphern für HIV/AIDS zu diesem Zeitpunkt geworden waren (wie z.B. „Tuberkulose“, „Herpes Zoster“, „Geschwüre“ oder „Wunden im Magen“) – mit HIV infiziert sein könnten.

 

„Respekt“ oder „Verschleierung“? Die Grenzen epistemologischer Solidität in ethischen Begutachtungsverfahren

Das Beispiel meiner Feldforschung in Tansania macht deutlich, dass ich zum einen grundsätzliche Werte ethischer Richtlinien ethnologischer Fachgesellschaften einhielt, indem ich die Würde der, und den Respekt gegenüber meinen, ForschungspartnerInnen in den Vordergrund stellte. Das graduelle Erlernen der sozialen und moralischen Codes, die eine respektvolle und nicht-verletzende Kommunikation über „HIV/AIDS“ in einzelnen Forschungssettings konstituierten, ermöglichte es meinen InterviewpartnerInnen und mir, in bedeutungsvoller – und durch sie selbst bestimmte – Weise über die Kernfragen des Forschungsprojekts zu sprechen. Zudem war ich im Vorfeld der Begegnungen zwar durch Gerüchte und Andeutungen – sowohl aus dem medizinischen als auch familiären oder sozialen Umfeld – über eine mögliche HIV-Infektionen meiner GesprächspartnerInnen oder ihrer Angehörigen informiert worden (und hatte sie auf dieser Basis auch um ein Interview oder Gespräch gebeten). Gleichzeitig stellte ich jedoch immer sicher, dass die betreffenden Personen mir das sorgfältig bewahrte Wissen über ihre Krankheit, oder die Krankheit Dritter, im Zuge des näheren Kennenlernens selbst anvertrauten und somit die Kontrolle über das Wissen bezüglich der stigmatisierten Erkrankungen behielten.

Ambivalenter verhielt sich meine Forschungserfahrung zum anderen in Bezug auf die Aspekte von Transparenz und informed consent, die ich mit dem fortschreitenden Forschungsprozess nicht länger an dem durch das NIMR erstellten Ethikgenehmigung orientieren konnte. Das Forschen in der Pfingstkirche und in ländlich-urbanen (Groß-)Familien, in denen über schwere und tödliche Krankheiten mit oft situativ wechselnden Bedeutungszuschreibungen kommuniziert wurden, passte nicht zur eindeutigen Ausrichtung der ursprünglichen Fragestellung auf das „Leben mit HIV/AIDS“. Oft fragte ich mich daher, wie transparent mein Vorgehen de facto war, wenn ich über Gerüchte und Andeutungen von HIV-Infektionen oder AIDS-Erkrankungen erfahren hatte und auf Grundlage meiner allgemein formulierten Forschungsfragen um Einwilligung zur Forschungsteilnahme bat – obgleich ich ja explizit an den individuellen und kollektiven Erfahrungen in Bezug auf HIV/AIDS interessiert war. War ich zudem nicht in unethischer Weise an solche Informationen gelangt, bei denen eigentlich Vertraulichkeit gewährt sein musste, und hätten meine ForschungsteilnehmerInnen immer in das Gespräch mit mir eingewilligt, wenn ich sie unmittelbar über den Bezug meiner Studie zu HIV/AIDS informiert hätte (selbst wenn sie sich später von selbst für dieses Thema öffneten)? Des Weiteren war ich mir oft im Unklaren darüber, ob ich noch dieselben Themen behandelte, wie sie im Ethikvotum des NIMR befürwortet worden waren, wenn ich mich auf die Bedeutungswelten meiner GesprächspartnerInnen einließ: Waren HIV und AIDS tatsächlich „das Gleiche“ wie Hexerei oder  das Wirken böser Geister? Bedeutete das situative Wechseln meiner Gegenüber zwischen verschiedenen Bedeutungs- und Praxiszusammenhängen – die alle eine Rolle im Umgang mit konkreten Erkrankungen spielen konnten -, dass sie stets auf die gleichen Krankheits- und Leidenserfahrungen rekurrierten, wie ich sie in meinem Antrag an das NIMR skizziert hatte? Während meine GesprächspartnerInnen selbst mitunter eine metaphorische Beziehung zwischen diesen sehr unterschiedlichen Diskursen und Praktiken herstellten und die eine Erklärung (Hexerei, Geister) als synonym für die andere (HIV) werteten, zogen andere Personen deutliche Grenzen zwischen diesen Ideen- und Praxisfeldern und betonten teilweise die prinzipielle Unvereinbarkeit, die zwischen den Welten der „Errettung“, „traditioneller Heilung“, oder auch der „Medizin“ bestehe.

Die Fragen, die vor diesem Hintergrund entstanden, waren somit nicht mehr allein forschungspraktische, die sich mit normativ aufgeladenen Ethikdiskursen über Respekt, Würde, Transparenz und Vertraulichkeit beantworten ließen. Vielmehr ging es um zutiefst epistemologische Fragen, die gleichzeitig untrennbar mit den Grundannahmen ethnographischen Arbeitens verbunden waren. Letzteres zeichnet sich dabei – nicht nur in Abgrenzung von der Medizin oder den Lebenswissenschaften, sondern auch von den anderen empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften – durch sein prinzipiell offenes Vorgehen aus,  das neben der Herstellung von Vertrauensverhältnissen in längerfristigen Forschungskonstellationen auf das Entdecken immer neuer Kontextualisierungen, Bedeutungszusammenhänge und Verbindungen ausgerichtet ist (Strathern 2011). Des Weiteren definiert die Ethnologie – als eine „heuristisch arbeitende Wissenschaft“ (Kirsch 2015), die stets nach dem Überraschenden und Unerwarteten sucht – Wissen immer als zutiefst kontextabhängig und situationsgebunden und stellt damit kaum einmal unterschiedliche Erklärungen eines Phänomens in eine hierarchische Ordnung zueinander. Ein solches Forschungsverständnis steht in einem prinzipiellen Widerspruch zu den Grundprämissen des oben beschriebenen Begutachtungsverfahrens des NIMR, nach dem alternative Erklärungsmodelle zu HIV/AIDS als „Glauben“ (im englischen oft misconception oder misbelief) und nicht als eine Form von Wissen mit seiner entsprechenden Existenzberechtigung kategorisiert wurden (vgl. Good 1994). In der (Medizin-)Ethnologie hingegen ist in solchen Situationen von Interesse, welche Diskurse und Bedeutungszuschreibungen für wen und in welcher Situation zur „Wahrheit“ werden – und wie ein solches Wissen zur Grundlage des individuellen und kollektiven Handelns wird. Ethische Dilemmata entstehen hier dann primär aus der Frage, wie ForscherInnen sich in Bezug  auf diese verschiedenen Wissensformen positionieren und welche Verantwortung sie hinsichtlich verschiedener Handlungsstrategien einnehmen, die stets sowohl negative – z.B. die Ansteckung weiterer Personen oder das Nicht-Aufsuchen bestimmter Behandlungsangebote –  als auch positive Implikationen – z.B. das Erzeugen von Hoffnung und die Integration in soziale, familiäre und religiöse Netzwerke – haben können.

 

Fazit: Wohin mit der Institutionalisierung der Ethik-Diskussion?

Die abschließende Frage dieses Beitrags besteht nun darin, wie sich die (Medizin-)Ethnologie in Deutschland in Bezug auf die auch innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften lauter werdenden Diskussionen über ethische Standardisierung verhalten soll – und welche Möglichkeiten sie hat, die spezifischen theoretischen und methodischen Stärken des Fachs auch in Zukunft in die oft inter- und transdisziplinären Diskussionen über die von ihr bearbeiteten Forschungsthemen einbringen zu können. Einerseits erscheint es dabei als die naheliegende Option, auf der doch angenehmen Position zu bestehen, in der sich das Fach momentan befindet. Die Disziplin hat differenzierte Debatten über (Selbst-)Reflexivität, Positionalität und Anwendungsorientierung – sowie über Modalitäten des ethnographischen Arbeitens in postkolonialen Zusammenhängen und Kontexten globaler Machtbeziehungen im weiteren Sinne – geführt, die entsprechende Diskussionen in den angrenzenden Fächern oft vorweg genommen haben. Benötigen wir vor diesem Hintergrund noch weitere Auseinandersetzungen zu diesen Kernfragen des professionellen Selbstverständnisses, oder gar ein größeres Maß an ethischer Verbindlichkeit für unser Fach?

Zum anderen aber ist es eine nicht zu leugnende Tatsache, dass die Institutionalisierung der Ethikdiskussion über alle wissenschaftlichen und nationalen Grenzen hinweg tendenziell zunimmt: (Medizin-)EthnologInnen werden nicht nur in internationalen Forschungszusammenhängen, sondern auch beim Arbeiten an inter- und transdisziplinären Schnittstellen mit der Anforderung konfrontiert, das positive Votum einer Ethikkommission bei Forschungsanträgen oder dem Einreichen von Publikationen bei Fachzeitschriften nachzuweisen. Des Weiteren können wir unserer Verantwortung gegenüber Studierenden und NachwuchsforscherInnen – sowie unseren ForschungspartnerInnen und KollegInnen in internationalen und teils postkolonialen Kontexten – nicht allein mit dem Verweis auf die methodischen und theoretischen „Errungenschaften“ unseres Fachs nachkommen; auch sie fordern mit Recht eine systematischere Sicherung ethischer Standards in ethnologischer Lehre und Forschung ein (Dilger, Huschke & Mattes 2015).

In Ländern wie den USA ist die Diskussion über Ethikkommissionen, die übergreifende Standards für alle Fächer formuliert haben, kritisch diskutiert worden. Gerade EthnologInnen haben dabei bemängelt, dass die Institutional Review Boards keinen Raum für das methodologisch und epistemologisch offene Arbeiten des Fachs lassen – und dass insbesondere politisch und sozial sensible Themen kaum einmal die Chance hätten, eine Ethikgenehmigung für ethnographisch flexible Forschungsansätze zu erhalten, wenn ethische Kriterien rigide angewendet werden (Bourgois 1990: 51). Wenn wir somit in der Zukunft keine Begutachtung durch Ethikkommissionen wünschen, die eine kritische Beleuchtung kontroverser Themen verunmöglicht und damit letztlich den politischen status quo einer Gesellschaft reproduziert (ibd.), sollten wir uns von den anstehenden Entwicklungen nicht überrollen lassen. Vielmehr ist es an der Zeit, dass die Ethnologie – auch im Dialog mit anderen Disziplinen – proaktiv Diskussionen darüber führt, wie unser Fach die mit Sicherheit anstehende Institutionalisierung ethischer Maßstäbe und Wertvorstellungen mitgestalten kann und gleichzeitig nicht hinter die theoretisch-konzeptuellen Debatten der letzten Jahrzehnte zurückfällt. Nur wenn wir weiterhin alle Möglichkeiten des ethnographischen Arbeitens in vollem Umfang einsetzen können, werden wir auch in Zukunft ein Verständnis für das entwickeln können, was wir nicht schon vorher gewusst – oder aber zumindest „begründetermaßen geahnt“ – haben.

 

Fußnoten & Dank

Ich bedanke mich bei den TeilnehmerInnen des Werkstattgesprächs „Doing Anthropology“ (Freie Universität Berlin: 17.-18. Juli 2015) sowie bei meinen Co-Moderatoren des Blogs für hilfreiche Anmerkungen zu ersten Versionen des Texts.

[1] 1981 wurde in den USA die „Common Rule“ erlassen, die die Arbeit von IRBs in Bezug auf den „respect for persons, benefits, and justice“ bis heute prägt (Droogsma Musoba, Jacob & Robinson 2014: 3). Erste IRBs in einzelnen medizinischen Forschungseinrichtungen existierten dabei bereits ab den 1950er Jahren. In Deutschland wurden Ethikkommissionen mit der 5. Novelle des Arzneimittelgesetzes (1994) verbindlich für klinische Studien vorgeschrieben.

[2] Mit Verweis auf Didier Fassins Entwurf einer „moralischen Anthropologie“ (Fassin 2008).

[3] Gerade in den ländlichen Gesundheitseinrichtungen wurden oft die Angehörigen – und nicht die PatientInnen selbst – über die HIV-positive Diagnose eines Familienmitglieds informiert.

 

Zum Autor

Hansjörg Dilger ist Professor für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Medizin- und Religionsethnologie sowie in der Erforschung gegenwartsbezogener Transformations- und Globalisierungsprozesse im östlichen und südlichen Afrika. In den letzten Jahren, und insbesondere vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Lehre und mit Ethikkommissionen in den USA (2005-2007), hat er zu Fragen der Forschungsethik und -moral unterrichtet und publiziert.

 

Literatur

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One thought on “Ethik und Ethnologie: Ethikkommissionen, ethnographisches Arbeiten und Epistemologie – nicht nur in der Medizinethnologie

  1. Nina Zeldes

    Vielen Dank für den interessanten Beitrag. Die angesprochene vielschichtige Problematik ist für mich sehr aktuell, da ich meine ethnographische Feldforschung in den USA durchführen werde und zurzeit ein IRB-Verfahren durchlaufe. Internationale Forscher müssen für Ihre Arbeiten in den USA meist eine Freigabe von einem IRB vorweisen, z.B. wenn sie Studienteilnehmer aus einem medizinischen Bereich rekrutieren wollen (wie z.B. Ärzte, medizinisches Personal oder Patienten) oder wenn sie als Gaststudent oder -forscher an einer US-Universität tätig sind oder sich um US-Forschungsgelder bewerben.

    Die vor Forschungsbeginn benötigte Freigabe aller Materialien umfasst nicht nur die Fragebögen, sondern auch den informed consent, und alle Materialien, die zur Kontaktaufnahme mit möglichen Studienteilnehmern (z.B. Flyer, Emails, Briefe) benötigt werden. An der Georgetown University in Washington, wo ich momentan als Visiting Researcher untergebracht bin, müssen darüber hinaus alle IRB-Bewerber einige Ethik-Onlinekurse absolvieren, die Wissen um ethisch korrektes Arbeiten und Forschen sicherstellen sollen. Einerseits stellt dieser Prozess sicher, dass die Rechte der Studienteilnehmer gewahrt werden und die jeweilige Studie gut durchdacht ist und vom jeweiligen Antragsteller fachgerecht durchgeführt werden kann. Damit ist dieser Prozess sicherlich auch für viele medizinische oder psychologische Studien sehr gut geeignet. Andererseits beschneidet er die im Beitrag erwähnten ethnographisch flexiblen Forschungsansätze doch beträchtlich.

    Das beginnt bei der Schwierigkeit, Fragebögen oder Kontaktformulare im Laufe der Studie anzupassen, hat aber auch eine Auswirkung auf die Wahl der Methoden, die eine sehr gründliche Abwägung zwischen Aufwand und Nutzen erfordern. Es ist z.B. nicht möglich, eine Familiensituation im Interview zu besprechen, wenn alle Informationen zu Dritten nicht durch einen separaten informed consent abgedeckt werden, was vor allem was Minderjährige betrifft besonders aufwendig ist. Auch ist der Prozess, einen Patienten zu einem Arztgespräch zu begleiten, sehr langwierig und daher nicht immer möglich. Wie groß der Spielraum ist, den Ethikkommissionen für ethnologische Fragestellungen lassen, kann ich noch nicht abschließend beurteilen, da mein Freigabe-Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Dies wird sicherlich auch von der Zusammensetzung der jeweiligen Kommission abhängen.

    Allerdings kann ich dem Beitrag nur zustimmen, denn allein durch die einzuhaltenden Vorgaben, wird das für unser Fach so wichtige offene Arbeiten erschwert. Andererseits wird es vor allem für EthnologInnen, die länderübergreifend tätig sind, immer wichtiger, Zugang zu allgemeingültigen ethischen Standards zu haben – die internationale Forschungsarbeiten, Publikationen oder Projekte ermöglichen oder erleichtern. Eine Weiterführung dieser Diskussion halte ich daher für unbedingt nötig.

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